Fünfte Szene

[448] Kleine Anhöhe vor Caillou.

Napoleon hält auf ihr zu Pferde. Bertrand, Cambronne und seine Suite um ihn. Die Garden hinter ihm. Neben ihm der Pächter Lacoste. Milhaud und seine Kürassiere kommen eben von ihrem zweiten abgeschlagenen Angriff zurück.


NAPOLEON. General, wie ists da oben?

MILHAUD. Sire, die Engländer wehren sich matter als bei unserer ersten Attacke.[448]

NAPOLEON. Bereiten Sie sich zu der dritten – Alle irgend überflüssigen Regimentsgeschütze dort zu Drouot – Die Zeit drängt, und was ihr an Länge fehlt, müssen wir durch Schnelle und Stärke ersetzen.


Adjutanten ab, – die französische Kanonade wird immer gewaltiger.


PÄCHTER LACOSTE. Jesus Maria!

NAPOLEON blickt ihn finster an. Was gibts?

PÄCHTER LACOSTE. Sire, Verzeihung – ich fürchte mich – mir ist das nicht gewohnt!

NAPOLEON. Wann kamen die Engländer hier an?

PÄCHTER LACOSTE. Gestern, Sire – Morgens neun oder zehn Uhr.

NAPOLEON. Waren sie marode?

PÄCHTER LACOSTE. Die, welche auf meinem Pachthof sich einquartierten, waren es, und wie es mir schien, auch alle übrigen. – Aber es währte nicht lange, so restaurierten sie sich bei zahllosen Marketenderfeuern.

NAPOLEON. Das Haus Belle Alliance vor uns – – Hat es Gehöfte, Hecken um sich?

PÄCHTER LACOSTE. Nein, es liegt offen an der Chaussee.

NAPOLEON. – Ist Milhaud bereit?

CAMBRONNE. Ja, Sire.

NAPOLEON. Kellermann stößt mit seinen Reitern zu ihm und er versucht, während Drouots Batterien so lange einhalten, den dritten Angriff.


Adjutanten ab.


PÄCHTER LACOSTE. Weh, meine Frau und meine Kinder!

CAMBRONNE. Bauer, halte das Maul.

PÄCHTER LACOSTE. Hier fallen engelländische Kugeln!

CAMBRONNE. Laß dich das nicht kümmern. Verlierst du dein bißchen Leben, was verlierst du Großes?

NAPOLEON. Wellingtons Heer wehrt sich mit den Krämpfen der Verzweiflung. Sechs reitende Batterien dem Milhaud nachgesandt. Man soll auf Mont Saint Jean Posto fassen, es koste was es will. Ney ebenfalls dahin über la Haye Sainte, und mache seine Überweisheit bei Quatrebras gut durch strenge Befolgung meines Befehls. Kann er Haye Sainte nicht nehmen, so läßt er es samt dessen feindlicher Besatzung am Wege liegen. – In einer halben Stunde muß Mont Saint Jean mein sein, oder ich erneue die Tage von[449] Lodi und stelle mich selbst an die Spitze der Kolonnen!


Viele Adjutanten ab.


Auf unsrem rechten Flügel ists zu still – Dahin, zum Graf Erlon – ihm gesagt: auf den Bergen jenseits Papelotte, in den Vierecken des linken englischen Flügels, wachse ein Marschallsstab von Frankreich.


Adjutanten ab, – andere kommen.


EIN ADJUTANT. Der Fürst von der Moskwa ist über la Haye Sainte hinaus, – da aber wehren sich die Engländer hinter Verhacken wie Rasende, und das Blut fließt in Strömen.

NAPOLEON. Und wogt es wie Meeresflut, wenn wir nur siegen! Der Sieg soll des Blutes wert sein. Der Stern des illegitimen, geächteten Napoleon von 1815 soll den Völkern freundlicher leuchten als der Komet des Erderoberers von 1811.


Viele Verwundete, auf Ambulanzen, werden vorbeigefahren.


Ihr Armen wißt auch nicht, weshalb ihr seufzet und stöhnt – Nach vierzig Jahren kommentierten es euch Gassenlieder!

ADJUTANT heransprengend. Die letzten englischen Reserven rücken in das Feuer –

NAPOLEON. Milhaud, Drouot und Ney sollen desto heftiger sie angreifen. Was da links? In der Gegend von Houguemont?

BERTRAND. Kanonendonner naht von dort – Prinz Jérôme wird bedrängt.

NAPOLEON. Was bedrängt! – Der Feind ist dort schwach, und neckt ihn eben darum mit Manoeuvres! – Zwei Schwadronen Gardelanciers mir nach!


Er galoppiert in Begleitung zweier Schwadronen Gardelanciers nach Houguemont, – der Kanonendonner, welcher von dort sich näherte, verliert sich bald darauf in der Ferne.


EIN OFFIZIER DER GARDEGRENADIERE ZU PFERDE. Der Milhaud macht heute beneidenswerte Chocs – wir bekommen zu tun, müssen wir mit seinen Kürassieren wetteifern.

EIN ANDERER OFFIZIER DER GARDEGRENA DIERE ZU PFERDE. Er ist im spanischen Kriege nicht umsonst braun geworden.

DER ERSTE OFFIZIER. Er erinnert an Murat.

DER ANDERE OFFIZIER. So ziemlich – aber mehr an seinen Mut als an seine Gewandtheit. Eine brillante Attacke, wie die des Murat bei Wagram, erleben wir wohl nicht wieder.

DER ERSTE OFFIZIER. Murat tat auch besser, ließ er, statt um[450] Neapels Lumpenthron sich zu raufen, seinen Federbusch hier wehen!

DER ANDERE OFFIZIER. Kronen müssen einen eignen verlockenden Glanz haben, sonst begreif ich nie, wie ein Franzose nicht lieber Gemeiner im ersten besten Linienregiment seines Vaterlandes sein will, als König von Neapel, oder Kaiser von Rußland.


Napoleon und Gefolge kommen zurück.


BERTRAND. Sire, es ist doch wahr: vorgestern ist der Herzog von Braunschweig gefallen – Gefangene Offiziere seines Korps versicherten es mir eben in Houguemont.

NAPOLEON. Ein Husarengeneral weniger. – – Lacoste, der Geschützdonner rechts? Von Wavre?

PÄCHTER LACOSTE. Sire, ja.

NAPOLEON. Grouchy treibt also die Preußen in die Dyle.

BERTRAND. Die Kanonade ist lebhaft, Sire – die Preußen leisten starken Widerstand.

NAPOLEON. Schwerlich, oder Grouchy wär ein äußerst erbärmlicher Verfolger gewesen, – sie waren zu sehr geschlagen, – selbst Bülows Korps muß von der flüchtigen Masse mit in den allgemeinen Strudel gerissen sein. – Graf Lobau schiebe jedoch zur Vorsicht seine Têten bis in das Gehölz zwischen hier und Wavre.


Großes Krachen von Mont Saint Jean her, – ungeheure Flammenmassen fliegen dort in die Luft.


CAMBRONNE. Brav, Drouot, das war ein Meisterschuß – zwanzig englische Pulverwagen gingen gewiß darauf!

NAPOLEON. Bertrand – Cambronne –

CAMBRONNE. Sire, ist es Zeit?

NAPOLEON. Ja.

CAMBRONNE UND BERTRAND. Garden, sturmfertig!

NAPOLEON. Es geht gradeaus, über La Haye Sainte, wo Milhaud und Ney sich an euch schließen. – Was pfeift da?

LACOSTE. Wehe, Meuchelmörder in unsren Reihen – ganz nahe Büchsenkugeln!

EIN OFFIZIER DER SUITE. Sire – Flügelhörner – Preußische Jäger keine zweihundert Schritt von uns.

NAPOLEON. Einige Chevaulegers hin, die an der Dyle versprengten jungen Tollköpfe zu ergreifen.

EIN ADJUTANT heransprengend. Vom Graf Lobau: das ganze Gehölz von Frichemont ist voll von Preußen.[451]

ZWEITER ADJUTANT später. Von Lobau: schon leichtes preußisches Geschütz im Walde von Frichemont – Der General eilt ihrem Angriff entgegenzukommen.

DRITTER ADJUTANT. Vom Graf Erlon: am linken Flügel der Engländer, auf der Höhe des Waldes von Frichemont erscheinen Blücher und Bülow mit zahllosen Heerhaufen, und Raketen über Raketen verkünden Wellington ihre Ankunft.

NAPOLEON. Blücher? Bülow? – Ihre Korps müssen Trümmer sein.

ADJUTANT. Sire, nein. Zug auf Zug, endlos, rücken sie aus dem Walde – immer breiter wird ihre Fronte – ein Geschützfeuer entwickeln sie auf den Anhöhen über dem anderen – ein durch die Wolken brechender Strahl der Abendsonne zeigte sie der halben Armee in voller Kampfordnung.

NAPOLEON für sich. Der Strahl war nicht von der Sonne von Austerlitz.

BERTRAND. Brechen Himmel und Erde ein? – Der Kaiser zuckte mit der Lippe! – – Sire, Sire, die Schlacht geht doch nicht verloren?

NAPOLEON. Grouchy hat viel daran verdorben –


Für sich.


– Daß das Schicksal des großen Frankreichs von der Dummheit, Nachlässigkeit oder Schlechtheit eines einzigen Elenden abhängen kann! –

EIN HERANSPRENGENDER ADJUTANT. Graf Lobau bittet Verstärkung – Ziethen kommt ihm und der Armee in den Rücken.

NAPOLEON. Mouton soll sich in Planchenoit so verzweifelt wehren, wie einstens auf der Insel, von welcher er den Namen Lobau trägt.

ANDERE ADJUTANTEN. Von Erlon: Bülow hat Papelotte erstürmt.

NAPOLEON. Meine schlechtesten Truppen gewesen, die Papelotte so schnell sich nehmen ließen. – Erlon läßt nur seine Arrièregarde den Preußen gegenüber, und marschiert links ab zu Ney.


Adjutanten ab.


ANDERE ADJUTANTEN. Vom Marschall Ney und General Milhaud: die ganze englische Linie setzt sich gegen uns in Bewegung.[452]

NAPOLEON. Zurück zum Marschall und zu Milhaud: gleich käm ich selbst – sie sollten sich halten bei la Haye Sainte, bei Gefahr ihrer Köpfe!


Zu den Adjutanten und Ordonnanzen seiner Suite.


Meine Herren, im Fluge zu allen Korps, welche nicht bei la Haye Sainte fechten, – sie sollen alle dahin, ob auch die Feinde, mit denen sie grade fechten, sie verfolgen oder nicht.


Viele Adjutanten und Ordonnanzen ab nach allen Seiten.


EIN ANKOMMENDER ADJUTANT. Drouot bittet um Munition –

NAPOLEON. Alle Artilleriemunition zu ihm.

EIN ANDERER ADJUTANT. General Drouots Kanonen drohen vor Hitze zu springen, und er wünscht –

NAPOLEON. Er schießt bis die Kanonen springen.

VIELE ADJUTANTEN. Ziethen pflanzt in unsrem Rücken Geschütze auf.

NAPOLEON. Das merk ich – Dort stürzt Friant mit zerschmetterter Stirn.

ANDERE ADJUTANTEN. Von Milhaud und Ney: Blücher treibt starke Kolonnen auf Belle Alliance, und versucht beide Generale von hier abzuschneiden.

NAPOLEON. Die Engländer?

EIN ADJUTANT. Rücken mehr und mehr vor. – Ney kämpft in wilder Verzweiflung.

NAPOLEON. Seine schwache, schädliche Manier. – Milhauds Kürassiere?

DER ADJUTANT. Die Mehrzahl schon gefallen.

NAPOLEON wendet sich zu den Garden, mit gewaltiger Stimme. Garden, kann es eine irdische Kraft, so könnt ihr die Schlacht retten und Frankreich! Noch nie ließt ihr mich in euch irren, – auch heute zähl ich auf euch –

CAMBRONNE. Kaiser, zähle, und du findest lauter Treffer!

NAPOLEON. Den Kaiser werf ich weg von mir – Vom Pferde springend. ich bin wieder der General von Lodi, und mit dem Degen in der Hand führ ich selbst euch auf Mont Saint Jean!

DIE GARDE. Über die Sterne der Kaiser!

BERTRAND. Kaiser, Kaiser – Entsetzlich – Da steht er, der Hut vom Kopf gefallen, den Degen in der Faust, wie der gewöhnlichste seiner Souslieutenante – Sire, die Pflicht gebietet dir, dein Leben nicht so auszusetzen, wie du im[453] Begriff bist!

NAPOLEON. Wie ich im Begriff bin? Schmettern hier nicht die Kugeln schon so dicht, wie irgendwo auf dem Schlachtfelde?

BERTRAND. Gewiß, Sire, doch daß du grade so wie jetzt –

NAPOLEON. Wie »grade so?« Was heißt das? – Zeige den Platz ehrenvoller als dieser meinige, an der Spitze meiner Garden, unter den Todesdonnern der Schlacht?

CAMBRONNE. Hört ihr, was der Kaiser sagt? – Die Musik dazu.

GARDEMUSIK SPIELT.

»Où peut on être mieux,

Q'au sein de sa famille!«

BERTRAND. Verdammt das Pferd, welches mich trägt, wenn der Kaiser zu Fuß ist! Ich werde Gemeiner, und kämpf als solcher!

ALLE OFFIZIERE DER SUITE. Wir auch!


Sie springen von den Pferden und ziehen die Degen.


NAPOLEON. Wo die Granitkolonne von Marengo?

CAMBRONNE. Sie tritt schon vor, und wünscht dich zunächst zu begleiten.

NAPOLEON. Das soll sie auch. Ihre Soldaten waren die Genossen meines schönsten Tages, – so sollen sie auch Genossen und Helfer an meinem bösesten sein! – – Garden aller Waffenarten mir nach!

CAMBRONNE. Herr Pächter Lacoste, leben Sie nun recht wohl und laufen Sie von hier was Sie können – Grüßen Sie die Frau und die lieben Kinder, und wenn Sie nach zehn Jahren mit denselben wieder zum tausendsten Male einen Kuchen essen, oder Ihren Töchtern neue Kleider schenken, so freuen Sie sich ja von neuem über Ihre Existenz und Ihr Glück – Wir gehen jenen Kanonenmündungen entgegen und bedürfen Ihrer Elendigkeit nicht mehr! – – Donner, welch ein Kugelregen – Die Melodie!

GARDEMUSIK SPIELT.

»Freuet euch des Lebens,

Weil noch das Lämpchen glüht!«

EINER DER GARDEHOBOISTEN stürzt. O, wie süß ist der Tod!


Alle ab gegen Mont Saint Jean.
[454]


Quelle:
Christian Dietrich Grabbe: Werke und Briefe. Band 2, Emsdetten 1960–1970, S. 448-455.
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